Flucht
und Reise, Heimat und Fremde – Schlagworte, die die aktuelle Arbeit von
Michael Stoll beschreiben. Doch wie gehören sie zusammen und wo stossen
sie sich ab? Flucht und Reise – beides sind Bewegungen in die Fremde,
aber mit völlig verschiedenen Beweg-Gründen: Die Reise geschieht aus der
Neugier am Fremden, der Lust des Fremd-Seins. Vielleicht auf der Suche
nach dem utopischen Paradies, oder der dekadenten Flucht vor Alltag und
Langeweile. Dabei bleibt die Heimat aber stets als Ort des Ursprungs,
der sicheren Heimkehr. Die Bewegung des Flüchtens hingegen entsteht aus
Not und existenzieller Sorge. Die Heimat wird zum unmöglichen
Sehnsuchtsort. Das Fremde wird gleichermassen belegt mit der Angst des
Fremd-Seins sowie Hoffnung auf eine sichere Zukunft, ein besseres Leben,
eine neue Heimat?
Michael Stolls jüngster Arbeit LAGESO kann man sich sehr gut mit Hilfe von Jürgen Habermas
nähern: Dieser unterscheidet zwischen Lebenswelt und System. Die
Lebenswelt zeichnet sich durch sprachliche Verständigung aus und basiert
auf dem, was uns Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet: In einer
sprachlichen Auseinandersetzung sind wir in der Lage, uns durch gute
Argumente, rationaler oder emotionaler Art, überzeugen zu lassen. Ein
System hingegen repräsentiert einen bestimmten funktionalen Bereich
unserer Gesellschaft in dem die kommunikative Verständigung durch binäre
Codes ersetzt ist: 1 oder 0, drinnen oder draussen. An bestimmten
Stellen einer Gesellschaft prallen diese beiden Komponenten aufeinander.
Einer dieser Orte ist das Landesamt für Gesundheit und Soziales in
Berlin. Hier findet die Erstregistrierung von Geflüchteten statt, hier
werden die Asylanträge gestellt und bearbeitet. Die bürokratischen
Strukturen dieser Behörde sind, wie in allen Verwaltungen, systemisch
organisiert. In den auszufüllenden Formularen gibt es die Möglichkeit,
Ja oder Nein anzukreuzen. Ein definierter Asylgrund wird erfüllt oder
nicht – aber eben nicht ein bisschen. Gleichzeitig bewegen sich in
diesem System Menschen mit Schicksalen. Mit komplexen, umwegigen
Lebensläufen. Mit rationalen und emotionalen Fluchtgründen.
Michael
Stolls Arbeit befasst sich mit der Unmöglichkeit, diese beiden
Komponenten mit einander zu Verständigen. Einer bis ins kleinste Detail
ausdifferenzierten, höchst bürokratischen Verwaltungsstelle, hinter
deren Bearbeitungsnummern Menschen stehen, deren Lebensgeschichten sich
nicht in Formulare pressen lassen. Deren Einzelschicksale Empathie und
Menschlichkeit verlangen. Text: Leonie Lydorf, Soziologin
Pressetext zur Ausstellung: vebikus/pressetext
Weitere Informationen unter: stolm4/aktuell / www.vebikus.ch