Die Ausstellung «Das Kapital ist weg – Wir sind das Kapital» belebt dieehemaligen Hallen
für Neue Kunst in der Kammgarn West in Schaffhausen. Vom 24. August bis zum 15. September
2018 zeigen über 30 nationale und internationale Künstler*innen ihre Werke und setzen ein
Signal der Gegenwart. In Anlehnung an das Werk „das Kapital“ von Joseph Beuys versteht
sich die Ausstellung als Aufforderung über das Kapital unserer Gesellschaft nachzudenken.
Ist Kunst frei?
Kann Kunst vereinen?
Was ist das Kapital unserer Gesellschaft?
Die Hallen für Neue Kunst in der Kammgarn West waren zwischen 1984 und 2014 eines der
renommiertesten Museen für Kunst, insbesondere für Minimal und Concept Art.
Angestossen wurde ihre Entstehung durch Urs Raussmüllers Versprechen an Joseph Beuys,
ihm einen Ort für sein zukünftiges Werk «Das Kapital Raum 1970-1977» zu schaffen,
welches fortan das Herzstück der Ausstellung bildete. Beuys Kunst war engagiert und
explizit politisch - sie wollte Botschaften und zukunftsweisende Modelle für die
Gesellschaft vermitteln. Sein Schlüsselwerk «Das Kapital Raum 1970-1977» kann als
Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus verstanden werden, welchem der Künstler die
Kreativität als eigentliches Kapital der Gesellschaft entgegensetzte. Das Werk entwickelte
sich über mehrere Jahre hinweg und in Interaktion mit vielen Menschen: die Installation ist
die Verbildlichung einer gelebten Aktion. Die Ausstellung «Das Kapital ist weg – Wir sind das Kapital!» lenkt
den Fokus von der geschichtsträchtigen Vergangenheit der Räume auf die Gegenwart. Der
Titel der Ausstellung bezieht sich nicht nur auf das abgewanderte Werk «Das Kapital Raum
1970-1977», sondern auch auf den von Beuys geprägten Begriff der sozialen Plastik, welcher
für eine gesellschaftsverändernde Kunstpraxis steht, in der jeder Mensch durch kreatives
Handeln an der Gestaltung der Gemeinschaft mitwirken kann. Dieses Miteinander spiegelt
sich in der Selbstorganisation der Ausstellung mit Einbezug aller Kunstschaffenden. Der
Diskurs der Gruppe formt das Konzept und die inhaltliche Ausrichtung der Ausstellung. Das
Statement «Wir sind das Kapital!» versteht sich zudem als Aufforderung an die
Besucher*innen zur Partizipation und Interaktion. Durch Miteinbezug und Austausch von und mit
allen Beteiligten werden Ideen und Denkanstösse weitergetragen und weitergedacht. Durch
diese Reflektion und den Dialog auf mehreren Ebenen erhält die Kunst gesellschaftliche Relevanz
und kann einen subversiven
Charakter annehmen. «Wir sind das Kapital!» kann auch ironisch gelesen werden und thematisiert
so die unauflösbaren Widersprüche mit denen sich Kunst im Zeitalter des Kapitalismus und
der Globalisierung konfrontiert sieht. Denn der Vorstellung von uneigennützigem, kreativem
Austausch steht der Begriff des kulturellen Kapitals gegenüber, welches die Fähigkeiten
und das Wissen von Personen bezeichnet. Kulturelles Kapital ist ebenso wie ökonomisches
Kapitalan Marktmechanismen gebunden und kann somit zu sozialer Ungleichheit beitragen.
Solche Kapitalumwandlungen zeigen sich in der Abhängigkeit der Kunst vom Kunstmarkt
und der Standortstärkung mittels Kulturförderung. Diese ökonomischen Verbindungen und
Machtverhältnisse stehen in Widerspruch zu zeitgenössischer Kunst, sofern diese als Mittel
verstanden wird, elitäre Kunstverhältnisse zu überwinden und für sich in Anspruch nimmt,
frei von Zwängen zu sein. Beuys Werk steht sinnbildlich für dieses unauflösbare Dilemma:
«Das Kapital Raum 1970-1977», welches aufgrund eines Rechtsstreites von den Hallen für
Neue Kunst aufgegeben werden musste, wurde im Anschluss für einen zweistelligen Millionenbetrag
verkauft. Der Verkauf bedeutete das damalige Aus für die Hallen für Neue Kunst. Wie kann
die zeitgenössische Kunst auf dieses unauflösbare Dilemma reagieren? Kompromisse
werden reflektiert und bewusst eingegangen - die Selbstorganisation der Ausstellung „Das
Kapital ist weg – wir sind das Kapital“ kann als Loslösung von etablierten Strukturen verstanden
werden, ist aber dennoch auf Unterstützung angewiesen. Die Ausstellung «Das Kapital ist
weg – Wir sind das Kapital!» ermöglicht einen Dialog zwischen Damals und Heute. Durch
die Nutzung des Leerstandes im Wandel werden alte Systeme aufgebrochen und geben
Raum für unerprobte Konzepte und Inhalte. Die Hallen für Neue Kunst schufen durch
die
Umnutzung der Industrieräumlichkeiten eine neuartige Museumskonzeption. Die Ausstellung
«Das Kapital ist weg – Wir sind das Kapital» greift dieses Erbe auf und lebt selbst neue
Konzepte.
Anstelle des Museums, das die Auswahl von Künstler*innen und Werken trifft, tritt das Künstlerkollektiv,
welches die inzwischen leeren Räume der Kammgarn West gemeinsam aneignet und bespielt.
Der Dialog zwischen Damals und Heute wird von Künstler*innen aufgegriffen, die ortspezifisch
arbeiten. Die Spuren früherer Werke werden neu interpretiert und schaffen eine Brücke in die
Gegenwart. Daneben stehen künstlerische Positionen die ganz im Jetzt verhaftet sind und
auf die Zukunft verweisen. Das Vergangene und Erhabene der Räumlichkeiten wird ernst genommen,
gleichzeitig nimmt sich die Ausstellung den Raum für Unbekanntes. Die Arbeiten der über
30 Künstler*innen stellen sich der übergreifenden Frage „Was ist das Kapital unserer
Gesellschaft?“.
Der Kapitalismus und seine Symptome, das Miteinander als Lösungsansatz und mediale Vielfalt als
Kunstpraxis zeigen den zeitgenössischen Kunstdiskurs der Ausstellenden. Durch die Gegenüberstellung
der Werke treten diese in Dialog zueinander, stellen sich gegenseitig in Frage und erweitern
ihren Kontext. Mehrere Werke beziehen den öffentlichen Raum mit ein und verweisen so über
die gegebenen Räumlichkeiten hinaus. Die Suche nach umfassenden Konzepten, die den Austausch
fördern, spiegelt sich auch in der Gestaltung des Raumes, in welchem sich das Monumentalwerk
von Beuys befand. Die gegenwärtige Rauminstallation fungiert als interaktives Kunstwerk,
welches von den Besucher*innen mitgestaltet wird und gleichzeitig als Bar dient. Der Raum
ist ein Ort der Interaktion, der Begegnung und des Austausches. Die Preise der Getränke
werden von einem Zufallsgenerator bestimmt und zwingen uns damit über Wert und Ware
und unsere eigene Rolle in diesen Systemen nachzudenken. Die Betrachter*innen werden
in die Verantwortung gezogen und die Grenzen zwischen Kunstraum und Alltag verwischen.
Die Ausstellung selbst kann als Gesamtkunstwerk verstanden werden, deren Summe in der
Interaktion mehr Wert generiert als seine einzelnen Teile.
Anina Knauer, Zürich und Corina Rauer, Zürich
Fotos: Philip Böni